9. November 2020 - Gedenkveranstaltung am Synagogenplatz in Aurich

Mon, 09 Nov 2020 18:33:49 +0000 von Paulus Kirchengemeinde

Vor 82 Jahren, am 9. November 1938, gab es in ganz Deutschland zentral organisierte Übergriffe auf jüdische Synagogen, Einrichtungen und Geschäfte. Viele jüdische Männer wurde verhaftet und gequält. Es gab Tote. Da die jüdische Bevölkerung sehr wohl wusste, dass das keine spontanen örtlichen Geschehen, sondern eben von oberster Stelle  befohlene und organisierte Attentate durch die SA waren, nannten die Berliner Juden diese Nacht "Reichskristallnacht". Wobei der Begriff "Reich" für die Organisiertheit und der Begriff "Kristall" für die vielen zerbrochenen Fensterscheiben steht.
Am 9.11.1938 wütete auch in Aurich die SA. Daran erinnert jedes Jahr die Gedenkveranstaltung, die durch die Deutsch-Israelische Gesellschaft und den Verbund christlicher Gemeinden, Ökumene in Aurich, zusammen mit dem Projektchor 9. November sowie Stadt und Landkreis Aurich organisiert werden.
Ein Kranz in Form eines Davidsterns wird am Denkmal an der ehemaligen jüdischen Volksschule in der Kirchstraße niedergelegt, am Synagogenplatz wird eine Gedenkveranstaltung durchgeführt.  Hier die Ansprache der Sprecherin der "Ökumene in Aurich"; Pn. Heike Musolf:

Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht am 9.11.2020, 18 Uhr  in Aurich

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“  Dieser Satz aus Artikel 1, Absatz 1 unseres Grundgesetzes fasst positiv zusammen,  was an leidvollem Geschehen passiert war, als Menschen andere Menschen wegen Religion, Abstammung, sexueller Orientierung, politischer Ansichten und vieler anderer Gründe nicht nur abgewertet, sondern zu Nichtmenschen erklärt und sie darauf hin ermordet haben. Er zieht Konsequenz aus dem, was in finstersten Zeiten deutscher Geschichte geschehen war.
Die Bedeutung unseres kulturellen und nationalen Gedächtnisses, die Bedeutung der Erinnerung an diese dunkle Zeit, ist unendlich wichtig, denn wir als deutsche Nation sollten doch ein Verbund von Menschen sein, die sich an die beschämenden Episoden ihrer Geschichte erinnern und Verantwortung übernehmen für die ungeheueren Verbrechen, die in ihrem Namen begangen worden sind. 
Dazu brauchen wir Gedenkorte, wie dieser Ort hier, wo einmal die Auricher Synagoge stand, Zentrum reichen jüdischen Lebens und Glaubens,  und wir brauchen Menschen, an die wir uns erinnern. Ihre Namen müssen genannt und ihre Geschichte muss erzählt werden, wie es z.B. durch die in die Stelen am Synagogenplatz eingravierten Namen, die  in Auricher Straßen verlegten Stolpersteine und die Bücher und Veröffentlichungen zu unserer Auricher Geschichte  geschieht. Wenn wir gedenken, geht es um Menschen, Menschen, von denen jeder einzelne einen Namen und eine einzigartige Würde hat, eine unverwechselbare Identität. Und wenn wir uns an diese einzigartigen Menschen erinnern, hilft   uns das, nicht einfach stehenzubleiben, indem wir die Erinnerung von unserem Leben abkoppeln, sondern im Gegenteil die Zukunft zu gestalten, indem wir zu unserem Leben in der Gegenwart immer wieder Verbindungen herstellen.  
Solch ein geschichtliches Verständnis hat man nicht einfach, sondern man muss es immer wieder erarbeiten, jede Generation auf das Neue muss sich um ein kritisch-aufgeklärtes Verhältnis zu unserer Geschichte bemühen. Nur so bleibt unser Gedenken kein leeres Ritual, sondern ein Fundament, auf dem Zukunft gestaltet wird, eine Zukunft, in der jeder jedem seine Würde zuerkennt und für diese eintritt, eine Zukunft, in der wir einander von Mensch zu Mensch begegnen. Auf solch einem Verständnis gründend finden wir für unser gegenwärtiges Leben in der Bundesrepublik Deutschland neue Fragen und Perspektiven, um unser aller Zusammenleben würdevoll zu gestalten.
Was passiert, wenn Menschen Menschen, Einzelnen oder Gruppen, die Würde absprechen, kann man nicht nur an unserer Geschichte erkennen, sondern auch aktuell in unserer bundesdeutschen Gegenwart. Es ist unerträglich, dass in unserem Land, das Religionsfreiheit als eines seiner grundlegenden und wichtigsten Rechte benennt, Menschen jüdischen Glaubens diesen nur unter Polizeischutz ausüben können und in der Gefahr leben, bei der Ausübung ihres Glaubens lebensgefährlich bedroht und verletzt zu werden. 
Wir haben uns ja schon daran gewöhnt, dass vor Synagogen, jüdischen Schulen und Kindergärten, jüdischen Altersheimen und Krankenhäusern, Polizisten stehen, und doch darf es einfach nicht sein, dass wir das als normal hinnehmen und nicht dafür kämpfen, dass jeder seinen Glauben ohne Gefahr leben darf. 
Deshalb sollten wir in unserem Gedenken das Versprechen abgeben, dass wir uns den Angriffen auf unsere offene und plurale Gesellschaft entschlossen entgegen stellen. Dazu gehört unbedingt das Wissen, dass Grenzüberschreitungen und Verbrechen zuzuschauen  ohne Initiative dagegen zu ergreifen, immer bedeutet, mitzumachen. Mitläufer sein, nannte man das nach der Nazizeit. Wir dürfen nicht zu Mitläufern werden, die wegschauen, nichts wissen wollen, nicht interessiert sind am Leid ihrer Mitmenschen. Es darf keine Toleranz geben, wenn Menschen diskriminiert werden, sei es wegen ihres Glaubens, ihrer Hautfarbe, ihrer Sexualität, egal weswegen.
So etwas darf nie wieder passieren - und dennoch passiert es tagtäglich, auf unseren Straßen, in unserem Umfeld und viel schlimmer noch, weil weniger greifbar und sich schnell ausufernd verbreitend, in den sozialen Netzwerken. 
Die christliche Bibel beginnt mit der hebräischen Schrift „Bereschit“, das bedeutet: im Anfang. Christen kennen diese als 1. Schöpfungsbericht im 1. Buch Mose, Genesis. Sie ist  im 6. Jh. vor Christus von gebildeten Menschen aus dem israelischen Volk, den sogenannten Priestern, in der Not des Babylonischen Exils geschrieben worden als das große Loblied auf den Schöpfergott, das in der Erkenntnis gipfelt: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bild, zum Bilde Gottes schuf er ihn und er schuf ihn als Mann und Frau.“ In der absoluten Niederlage, niedergedrückt durch Fremdherrschaft, in fremdem Land gestrandet, haben diese Menschen vor 2600 Jahren trotz ihres durch andere Menschen verursachten Leides erkannt, dass jeder einzelne Mensch Gottes Ebenbild ist und insofern gleiche Stellung und gleiche Rechte hat,  denn es ist vom Menschen die Rede, nicht von Nationalität, Religion oder Hautfarbe. Und vor 2600 Jahren schon wird betont: Mann und Frau sind vor Gott gleich, mit gleichen Rechten und Freiheiten gesegnet. Im Grund wird hier von der unangreifbaren und unverlierbaren, weil von Gott gegebenen, Würde des Menschen gesprochen.
Bis endlich die deutsche Nation diese Erkenntnis zur Grundlage ihrer Rechtsprechung gemacht hat, musste viel Leid und Unrecht geschehen. Damit dieses nie wieder geschieht und dort, wo es dennoch geschieht, dagegen gekämpft wird, ist Gedenken, wie wir es heute, am 9. November 2020, 82 Jahre nach der Pogromnacht,  begehen, unverzichtbar.
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